Vom Lager zur Arbeitsstätte

 

Öffentlicher Gedenkgang zur Erinnerung an die Zwangsarbeiterinnen der Agfa-Kamerawerke von der Weißenseestraße 7 zum Ella-Lingens-Platz, München-Giesing

 

Sonntag, 8. November 2020, 17:00 Uhr, Weißenseestraße 7

 

Alexander Steig, der 2017 die temporäre Erinnerungsskulptur KAMERA vor dem ehemaligen Außenlager in der heutigen Weißenseestraße 7-15 errichtet hatte, gedenkt auf dem Weg vom damaligen Standort des Lagers zur Zwangsarbeitsstätte auf dem Agfa-Gelände an die internierten Frauen des Außenlagers Agfa-Kamerawerk des KZ Dachau. Er liest aus Texten der niederländischen Kontoristin und Widerstandskämpferin Kiky Gerritsen-Heinsius (1921-1990) und der österreichischen Juristin, Ärztin und Widerstandskämpferin Ella Lingens (1908-2002). Beide Frauen haben unter nationalsozialistischer Herrschaft ihr Leben riskiert, um jüdische Mitmenschen vor Deportation und Ermordung zu retten. Dafür wurden sie von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.

 

Hintergrund des Projektes KAMERA bildete damals Alexander Steigs Recherche zu Thema Zwangarbeit bei dem zu IG-Farben gehörenden Münchner Agfa-Werk in Giesing bzw. dem Außenlager Agfa-Kommando des KZ-Dachau; hier richtete er den Blick auf die Gruppe der etwa 700 Zwangsarbeiterinnen (politische Gefangene aus den Niederlanden und Frauen aus Osteuropa – hier mehrheitlich Polinnen, die als Vergeltungsmaßnahme des Warschauer Aufstandes verschleppt wurden), die von 1944 bis kurz vor ihrer Befreiung am 30. April 1945 im Wohnhaus Weissensseestr. 7-15 interniert gewesen waren.

 

Etwa 500 dieser Frauen arbeiteten im benachbarten „Agfa-Camerawerk“ als Zwangsarbeiterinnen für die Rüstungsindustrie des NS-Staates; neben Zeitzündern und Zielfernrohren wurden Bauteile für die „Vergeltungswaffe“ V1 und V2 hergestellt. Der 100seitige Erinnerungsbericht der Niederländerin Kiky Heinsius schildert eindringlich und sehr ausführlich die Arbeitsbedingungen und das Leben im Lager Weissensseestraße.

 

Auch wenn Agfa eine Einlage in die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ beisteuerte, schien es Steig geboten, durch eine künstlerische Intervention am ehemaligen Lager auf die tragische Besonderheit des Ortes hinzuweisen. Das heutige Wohnhaus verrät nichts über seine Vergangenheit. Der Bau des Wohnblocks wurde aufgrund von Bombenschäden unterbrochen – im Rohbau diente er der Internierung der Häftlinge. Um 1949 wurde der Bau dann fertig gestellt. Kiky Heinsius schildert, dass sie im Block linkerseits (heute Haus Nr. 7) interniert gewesen war. Das Lager selbst besaß eine Stacheldrahtumzäunung und vier Wachhäuser.

 

Einen Teil des Gebäudes samt einem dazugehörigen Hof hatte man notdürftig mit Stacheldraht abgetrennt.*

 

Um das Lager herum gab es keine Mauer, so dass jeder, der vorbeilief, durch den Stacheldraht beobachten konnte, was sich bei uns abspielte.**

 

*Ella Lingens: Gefangene der Angst, Wien 2003, S. 296

**Kiky Gerritsen-Heinsius: Die Welt war weiß. In: Alexander Steig (Hg.): Kamera - Ein künstlerisch-wissenschaftliches Projekt zum Außenlager Agfa-Kamerawerk in München-Giesing 1944-45, mit einem Erinnerungsbericht von Kiky Gerritsen Heinsius, München 2019, S. 126.

 

 

Abbildungen: Ehemaliges Außenlager Agfa-Kamerawerk des KZ Dachau an der Weißenseestraße 7-15 mit Standortspuren der temporären Erinnerungsskulptur KAMERA am ungefähren Ort eines damaligen Wachpostens. Ella-Lingens-Platz. Fotos: © Alexander Steig, VG Bild-Kunst, Bonn 2020.

 

Eine Veranstaltung des Bezirksausschuss 17 - Obergiesing-Fasangarten in Kooperation mit Alexander Steig

 

Dank an: Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V., Regionale Arbeitsgruppe München

Kontakt:  mail@kamera-projekt.de

 

 

Alexander Steig

KAMERA

 

Skulptur und Begleitprogramm zur Erinnerung an die Zwangsarbeiterinnen des Außenlagers Agfa-Kamerawerke in München-Giesing

 

24.  September bis 22. Oktober 2017

 

Eine Kunstintervention im öffentlichen Raum und Veranstaltungsreihe von Alexander Steig im Rahmen der Reihe „München - Rechts der Isar“ des Kulturreferats der Landeshauptstadt München Weißenseestr. 7 (Skulptur), Giesinger Bahnhof (Begleitprogramm) und Ella-Lingens-Platz (Führung).

 

Eröffnung: Sonntag, 24. September 2017 um 11:00 Uhr, Weißenseestraße 7, 81539 München

Begrüßung: Kerstin Möller (Kulturreferat/Kunst im öffentlichen Raum, Landeshauptstadt München)

Einführung: Dr. Simon Frisch (Filmwissenschaftler, Bauhaus-Universität Weimar)

Anschließend das Angebot zum Gespräch bei Kaffee und Gebäck in der Gleiswirtschaft im Giesinger Bahnhof (fußläufig in 8 Minuten erreichbar).

Bei Starkregen findet die Eröffnung an noch bekanntzugebendem Ort in der Nähe statt.

 

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Begleitprogramm im Giesinger Bahnhof

Vortrag: Montag, 25.09.2017 um 19:00 Uhr

Zwangsarbeiterinnen bei Agfa - historischer Hintergrund und aktuelle Wahrnehmung

Referent: Jascha März M.A. (Historiker, KZ-Gedenkstätte Dachau)

Der Historiker Jascha März M.A. hat an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Mittlere und Neuere Geschichte, Alte Geschichte und Klassische Archäologie studiert. 2010 erhielt er dort seinen Magister mit einer Arbeit über Deserteure in der Gerichtsbarkeit Köln während des Zweiten Weltkrieges. Von 2009 bis 2016 hat er als Honorarkraft im NS-Dokumentationszentrum Köln gearbeitet und parallel im Jahr 2013 seine Promotion an der Universität zu Köln begonnen. Im Juli 2016 hat er seine Dissertation über Opferverbände der ehemaligen politischen Verfolgten des Nationalsozialismus erfolgreich verteidigt. Seit Dezember 2016 ist er wissenschaftlicher Volontär der KZ-Gedenkstätte Dachau und forscht zu den Außenlagern und -kommandos des ehemaligen KZ Dachau.

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Podiumsdiskussion: Dienstag, 26.09.2017 um 19 Uhr

Mahnmal – Zur Problematik künstlerischer Intervention „im Dienste“ der Erinnerungsarbeit

Moderation: Ralf Homann (Künstler/Autor, München); Gäste: Dr. Sabine Schalm (Historikerin, Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Fachbereich Stadtgeschichte), Dr. Heinz Schütz (Kunstpublizist und -theoretiker, München), Alexander Steig (Künstler, München)

 

Nicht erst die 1988 von Lea Rosh angeregte Idee, ein Mahnmal für die ermordeten Juden Europas zu errichten sowie dessen langwierige und schwierige Realisationsphase bis zur Einweihung 2004 zeigt den problematischen Diskurs einer künstlerisch umgesetzten Erinnerungskultur. Schlussendlich führte in diesem prominenten Fall kein Künstler, sondern der Architekt Peter Eisenman die Gestaltung durch. In München werden diesen Sommer das Denkmal zur Erinnerung an die Opfer des Amoklaufs vom 22. Juli 2016 am Olympia-Einkaufszentrum von Elke Härtel sowie Ulla von Brandenburgs Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Lesben und Schwulen eingeweiht. Auf dem Podium soll vor diesem Hintergrund und anlässlich der temporären Intervention KAMERA des Künstlers Alexander Steig darüber gesprochen werden, ob und welchen Beitrag diese Form der Erinnerungsarbeit leisten kann.

Der Autor und Künstler Ralf Homann leitet das Gespräch. Der Moderator studierte von 1991 – 1997 Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste in München und lehrte von 1999 bis 2007 an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar. Seine vielbeachteten Radio-Essays und Dokumentationen (u. a. zum NSU und Rechtsextremismus) wurden international preisgekrönt; sein jüngstes ARD-Radiofeature über die "Profiteure des Europäischen Grenzregimes" wurde 2016 zum Prix Europa nominiert.

Die Historikerin Dr. Sabine Schalm studierte Geschichte, Anglistik und Soziologie in Regensburg, Edinburgh und Berlin. Sie promovierte am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin über Organisationsstrukturen des Außenlagerkomplexes des KZ Dachau. In München arbeitete sie seit 2000 freiberuflich in vielfältigen Forschungs- und Ausstellungsprojekten zur NS-Zeit und dessen erinnerungskulturellen Umgang nach 1945. 2012 bis 2015 war sie Kuratorin der Dauerausstellung am NS- Dokumentationszentrum München, bevor sie 2015 im Kulturreferat der Landeshauptstadt München den Fachbereich Stadtgeschichte übernahm.

Der Kunsttheoretiker, -kritiker und -publizist Dr. Heinz Schütz setzt in seiner Arbeit Schwerpunkte in den Bereichen Museumspraktiken, Urbane Kunst und urbane Performativität; desweiteren forscht er zu den Themen Postmoderne Erinnerungsstrategien sowie National-Sozialismus in der Münchner Nachkriegskunst. 2008 kuratierte Heinz Schütz das Ausstellungsprojekt „Performing the City –Kunst Aktionismus im Stadt Raum
60er und 70er Jahre”, das von der Prämisse, ausgehend “Städte sind mehr als die Summe statischer Architekturen, die Stadt entsteht performativ als Resultat von sozialen Prozessen und öffentlichen Aktionen“, Städte in Asien, Europa und Amerika fokussierte und erstmals in einem ausholenden Überblick das Verhältnis von performativer Kunst und Stadt reflektierte.

Der Künstler Alexander Steig stellt in seiner Arbeit Fragen nach gesellschaftlichen Kontrollmechanismen, dem damit einhergehenden Intimitätsverlust und der Rolle der Massen- und Kommunikationsmedien. Seine Projekte werden in hohem Maße unter Berücksichtigung architektonischer, historischer und „sozialer“ Vorgaben der jeweiligen Ausstellungsorte entwickelt. Diese wie auch seine jüngste Intervention „KAMERA“ finden häufig im öffentlichen und halböffentlichen Raum statt. So sind seit 1996 über 190 z. T. raumübergreifende Interventionen konzipiert und innerhalb wie außerhalb Deutschlands realisiert worden.

 

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Lesung: Mittwoch, 27.09.2017 um 19 Uhr

Die Welt war weiß - Erinnerungsbericht von Kiky Gerritsen-Heinsius

Einführung: Barbara Hutzelmann M.A. (Historikerin, Stadtarchiv München)

Lesung: Lydia Starkulla (Schauspielerin/Regisseurin, München)

Die Historikerin Barbara Hutzelmann M.A. arbeitet in der Koordinierungsstelle „Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in München" im Stadtarchiv München. Sie hat Neue und Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Jüdische Geschichte und Kultur, Mittelalterliche Geschichte und Judaistik an der LMU München studiert. Sie ist Autorin des Teils „Slowakei“ im 2017 erscheinenden Band 13 der Edition "Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945". Die Historikerin führt in das Leben der niederländischen Widerstandskämpferin Hendrika Jacoba (Kiky) Gerritsen-Heinsius (1921–1990) ein, die im Februar 1944 von der Gestapo in Amsterdam verhaftet und über Umwege ins Außenlager Afga-Werk des KZ Dachau deportiert wurde. Mit etwa 500 anderen weiblichen Häftlingen war sie unter primitivsten Bedingungen in einer kriegsbeschädigten Bauruine in der Weißenseestraße interniert. Heinsius’ Erinnerungsbericht schildert eindringlich und ausführlich die Arbeits- und Lebensbedingungen im KZ-Außenlager Agfa-Werk.

Die Schauspielerin und Regisseurin Lydia Starkulla hat sich den Erinnerungsbericht „Die Welt war weiß“ von Kiky Gerritsen-Heinsius sensibel erarbeitet und liest als erfahrene Sprecherin ausgewählte Passagen aus dem unveröffentlichten Dokument. Herr Jos Sinnema, der eine Biografie von Kiky Gerritsen-Heinsius für das Gedächtnisbuch „Namen statt Nummern“ verfasst hat, strukturierte nach Kikys Tod zusammen mit deren Ehemann Piet Gerritsen behutsam das Originalmanuskript. Dankenswerter Weise hat Jan van Ommen, Sohn der niederländischen politischen Gefangenen des Außenlagers Agfa-Kommando Renny van Ommen, neben seinem umfänglichen Rechercheangebot die deutsche Übersetzung des Textes veranlasst.

 

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Führung: Donnerstag, 28.09.2017, 17:30 bis 19:00 Uhr
Treffpunkt: Werner-Schlierf-Str. 25, München

Historischer Spaziergang vom Ella-Lingens-Platz zur Weißenseestraße 7

Führung: Dr. Karin Pohl (Historikerin, Marktoberdorf)

Die Historikerin Dr. Karin Pohl arbeitet freiberuflich und ist Autorin mehrerer KulturGeschichtsPfade, darunter auch das Heft Obergiesing-Fasangarten, herausgegeben vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Zusammen mit Dr. Willibald Karl realisierte sie das Ausstellungs- und Buchprojekt „Amis in Giesing, 1945-1992“ (2012). In ihrer Führung wird Karin Pohl gezielt und ausführlich auf das damalige Außenlager Agfa-Kommando und die Arbeits- und Lebensbedingungen der Häftlingsfrauen eingehen. Begleiten wird sie dabei der Künstler Alexander Steig.

 

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